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Wellbeing statt Bruttosozialprodukt
Warum Neuseeland Fortschritt neu definiert
Neuseeland kämpft mit einer steigenden Zahl Obdachloser und der höchsten Suizidrate unter jungen Menschen in der entwickelten Welt. Die Regierung versucht, die tief greifenden Probleme mit einem neuen Ansatz in den Griff zu bekommen. Hat dieses Umdenken Zukunft?
Stellen Sie sich vor, Sie sind Pilotin und fliegen hoch über den Wolken einen Passagierjet. Aber statt zahlreicher Anzeigen und Leuchten, die Ihnen sagen, ob mit dem Flugzeug alles in Ordnung ist, gibt es nur ein einziges Instrument im Cockpit: die Drehzahlmesser der Triebwerke. Keinen Kompass, keinen Höhenmesser, keine Angabe zum Kabinendruck, nichts. Kein vernünftiger Mensch würde in ein solches Flugzeug steigen. Genau so steuern wir — etwas überspitzt formuliert — unsere Volkswirtschaften. Das Bruttoinlandprodukt ist unser „Drehzahlmesser”.
Das Bruttoinlandprodukt erfasst lediglich Transaktionen, die einen Marktpreis haben, und gibt keinerlei Aufschluss darüber, wie es der Bevölkerung in einem Staat tatsächlich geht. „Nach traditionellen Messgrößen geht es uns gut. Aber die Zahl der Obdachlosen nimmt stetig zu und wir haben eine der höchsten Suizidraten unter jungen Menschen innerhalb der OECD”, sagte die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern während des WEF in Davos im Jahr 2019. Im selben Jahr hat ihre Regierung das Wellbeing Budget eingeführt.
Neuseeland misst damit seinen Erfolg nach dem Wohlergehen der Bewohnerinnen. Das bedeutet, dass sich die Ausgaben auf soziale Wohlfahrt konzentrieren. „Wenn einer meiner Ministerinnen Geld ausgeben möchte, muss sie oder er zuerst belegen, dass das Vorhaben nachhaltig der gesamten Bevölkerung zugutekommt”, sagt Ardern, „und sie müssen departementsübergreifend zusammenarbeiten.”
Ein Staat denkt um
Weil Neuseeland in der Vergangenheit als Sozialstaat immer wieder versagt hat, beschloss die Links-Mitte- Regierung unter Ardern, einen komplett neuen Weg zu gehen. Der Zweck der Staatsausgaben sei es, die Gesundheit und Lebenszufriedenheit der Bürger*innen zu gewährleisten, und dies — nicht Wohlstand oder Wirtschaftswachstum — sei der Maßstab, an dem der Fortschritt eines Landes gemessen werden sollte, erklärte Ardern bei der Einführung des Budgets 2019.
Aber wie misst man sozialen und ökologischen Fortschritt in einem Land, wenn es keine vergleichbaren Messgrößen dafür gibt?
Kann der Erfolg oder Misserfolg überhaupt transparent dargelegt werden? Die neuseeländische Regierung fokussiert sich neu auf konkrete, langfristige Ergebnisse, auch für zukünftige Generationen (Outcomes).
Wie hat sich das Wellbeing Budget bis jetzt behauptet?
Als die Regierung Neuseelands das neue Budget vorstellte, reichten die Kommentare von „zukunftsweisend” bis „reines Politmarketing”. Nun ist das dritte Budget dieser Art aufgelegt. Die Probleme, mit denen der Pazifikstaat kämpft, sind nicht kleiner geworden — die Immobilienkrise hält an, die Suizidrate unter Jugendlichen ist gestiegen und die Kinderarmut bleibt hoch. Hat das Wellbeing Budget versagt? Politische Analystinnen und Wissenschaftler innen sind sich uneinig. Das Problem ist, dass die Messlatte hoch, die Ziele langfristig und die Geduld in der Bevölkerung klein sind. Und die Corona-Pandemie hat außerordentliche Maßnahmen erforderlich gemacht. Ob die Wellbeing-Ziele langfristig erreicht werden, wird sich erst zeigen.
Die Schweiz setzt auf “Bewährtes”
Wie sieht das Thema „Wellbeing” in der Schweiz aus? Auf die Frage, ob der Bundesrat bereit wäre, ein ähnliches Budget wie Neuseeland aufzustellen, antwortete dieser zurückhaltend. „Die grundlegenden Weichenstellungen erfolgen in der Bundespolitik nicht mit dem Budget, sondern im Gesetzgebungsprozess”, hieß es in seiner Antwort. Dies erlaube es, eine „angemessene politische Diskussion” zu führen und die betroffenen Anspruchsgruppen im Vernehmlassungsprozess miteinzubeziehen. Seit 1999 verfolgt der Bundesrat mit dem Finanzleitbild neben finanzpolitischen auch Ziele zur sozialen Gerechtigkeit und Stabilität. Zusätzlich gibt es eine sogenannte „Wohlfahrtsmessung”. Gemessen wird anhand von 40 Indikatoren aus den drei Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt. Es ist kein Maßnahmensystem, sondern nur eine Bestandsaufnahme zur Lage der Nation.